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und Goethes Werke, kurz, die neue und die alte Literatur. Sie
lernte reiten, tanzen und zeichnen. Sie machte Aquarelle und mal-
te in Sepia, indem sie mit Eifer alle Hilfsmittel herbeisuchte, die
Frauen der Langeweile der Einsamkeit entgegenstellen. Kurz, sie
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gab sich jene zweite Erziehung, die die Frauen fast alle von ei-
nem Manne erhalten und die sie nur durch sich selber erhielt. Die
Ueberlegenheit einer aufrichtigen, freien, wie in der Wüste aufer-
zogenen, durch die Religion aber befestigten Natur hatte ihr et-
was wie eine Art wilder Größe und Anforderungen verliehen, für
welche die Provinzgesellschaft ihr keine Nahrung zu bieten ver-
mochte.
Alle Bücher malten ihr die Liebe aus, sie machte eine Anwen-
dung ihrer Lektüren und merkte nichts von Leidenschaft. Die
Liebe blieb in ihrem Herzen im Zustande jener Keime, die auf
einen Sonnenstrahl warten. Ihre tiefe Melancholie, verursacht
durch beständiges Nachdenken über sich selber, führte sie auf
dunklen Pfaden wieder zu den schimmernden Träumen ihrer letz-
ten Jungmädchentage zurück. Sie mußte mehr als einmal über
ihre alten romantischen Gedichte nachdenken, indem sie dann
zugleich ihr Schauplatz und ihr Gegenstand wurde. Sie sah jene
in Licht gebadete, blühende, duftüberströmte Insel wieder, wo
alles ihre Seele liebkoste. Oft umfingen ihre trüben Augen die
Salons mit einer durchdringenden Neugierde: die Männer darin-
nen glichen alle Graslin, sie studierte sie und schien ihre Frauen
zu befragen; wenn sie aber irgendeinen ihrer intimen Schmerzen
auf den Gesichtern wiederholt sah, wurde sie wieder düster und
traurig und über sich selbst beunruhigt. Die Autoren, die sie mor-
gens gelesen hatte, entsprachen ihren höchsten Gefühlen, ihr
Geist gefiel ihr; und am Abend hörte sie Banalitäten, die man
nicht einmal unter geistreichen Formen verbarg, dumme, leere
oder von Lokalinteressen, persönlichen Interessen, die keine
Wichtigkeit für sie hatten, vollgestopfte Unterhaltungen. Sie
wunderte sich über die Hitze, die man bei Diskussionen an den
Tag legte, wo es sich doch nicht um Gefühl handelte, das für sie
des Lebens Seele war. Man sah sie oft mit gebannten, stumpfsin-
nigen Augen, wenn sie zweifelsohne an die Stunden ihrer unwis-
senden Jugend dachte, die verflossen waren in jener Kammer
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voller Harmonien, die nun zerstört worden waren wie sie selber.
Sie fühlte einen furchtbaren Widerwillen, in den Schlund der
Kleinlichkeiten zu sinken, worin sich die Frauen bewegten, mit
denen zu leben sie gezwungen war. Diese auf ihrer Stirne, auf
ihren Lippen geschriebene und schlecht verhehlte Verachtung
deutete man als die Unverschämtheit einer Emporgekommenen.
Madame Graslin bemerkte auf allen Gesichtern eine Kälte und
fühlte in allen Gesprächen eine Schärfe, deren Gründe ihr unbe-
kannt waren, denn sie hatte es noch nicht zu einer Freundin brin-
gen können, die ihr nahe genug stand, um von ihr aufgeklärt oder
beraten zu werden. Die Ungerechtigkeit, die Kleingeister empört,
bringt erhabene Seelen zu sich selber zurück und teilt ihnen eine
Art Demut mit: Véronique verurteilte sich, suchte ihr Unrecht.
Sie wollte freundlich sein, man nannte sie falsch; sie verdoppelte
die Liebenswürdigkeit, man erklärte sie für scheinheilig, und ihre
Frömmigkeit kam der Verleumdung zu Hilfe. Sie stürzte sich in
Unkosten, gab Diners und Bälle, sie wurde für hochmütig taxiert.
Unglücklich in allen ihren Versuchen, schlecht beurteilt, zurück-
gestoßen durch den niedrigen und zänkischen Hochmut, der die
Provinzgesellschaft auszeichnet, wo jeder immer mit Prätentio-
nen und Besorgnissen bewaffnet ist, geriet Madame Graslin in die
tiefste Einsamkeit. Voller Liebe kehrte sie in den Arm der Kirche
zurück. Ihr hochstrebendes Gemüt, das von einem so schwachen
Fleische umgeben war, ließ sie in den vervielfachten Geboten des
Katholizismus ebenso viele längs der Abgründe des Lebens ein-
gerammte Steine, ebenso viele von barmherzigen Händen herbei-
getragene Schutzpfähle sehen, um die menschliche Schwäche
während der Reise zu stützen; sie befolgte also mit größter Stren-
ge die geringsten religiösen Uebungen. Die liberale Partei rechne-
te Madame Graslin nun zu der Zahl der Stadtfrommen, sie wurde
in die Ultras eingereiht. Zu den verschiedensten Beschwerden,
die Véronique unschuldigerweise veranlaßt hatte, fügte der Par-
teigeist also sein periodisches Außersichsein hinzu; da sie aber
nichts bei diesem Ostrazismus verlor, gab sie die Gesellschaft auf
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und warf sich auf die Lektüre, die ihr unendliche Hilfsquellen
bot. Sie dachte über die Bücher nach, verglich die Methoden,
vermehrte auf übermäßige Weise die Tragweite ihrer Intelligenz
und den Umfang ihres Unterrichts; und so öffnete sie die Pforte
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